Annemarie Schall: Blätter aus der Vergangenheit, Teil III Meine Mutter war ein ausgesprochen liebenswürdiger Mensch. Ihr war nichts zu viel. Ehe meine Mutter zu den drei Tanten ging, suchte sie aber die vierte Schwester, Emilie Federhaff auf. Diese wohnte für sich , d.h. sie hatte im hinteren Teil der großen Wohnung einige Zimmer abgetrennt. Ihre Tochter, die auch Fanny hieß, war damals schon mit Prof. Paul Mezger verheiratet. Sie war eine kluge Frau mit einem reichen Gemütsleben. Leider hatte das vortreffliche Paar keine Kinder. Tante Emilies zweite Tochter, Anna, war Klavier- und Gesangslehrerin. Bei ihr passt der Ausdruck "verblichen". Sie mußte einmal hübsch gewesen sein. Sie hatte soetwas Trauriges an sich, was einen ja nicht wunderte, denn ihre Mutter lag eigentlich immer im Bett. Ich kann mir wenigstens nichts anderes vorstellen. Sie lag, in meiner Erinnerung, himmelhoch gebettet, und meine liebe Mutter saß geduldig zuhörend daneben. Ich hatte am Fußende des hohen Bettes meinen Platz auf einem Schemelchen, oft aber auf einem Nachthäfele, das war sicherer als der Schemel. .... Ja meine liebenswürduge Mutter wußte wohl: Tante Emilie war verheiratet und das mußte besonders gewürdigt werden, sie hatte ja gewissermaßen ihr eigenes Heim.- Freilich, sie hatte ein tieftrauriges Schicksal gehabt. Als junges Mädchen hatte sie die Verwandten in Calw besucht und lernte dabei den jungen Christian Ludwig Federhaff kennen, der eine gutgehende Schönfärberei besaß. Es gab bald eine fröhliche Hochzeit. Aber die Zeiten hatten sich dann geändert. Die Färberei ging nimmer gut. Christian hätte sich auf etwas anderes besinnen müssen. Aber es hat wahrscheinlich bei den Beiden der Mut und der Schwung gefehlt. Sie hat sicher viel gejammert. So gefiel es ihm daheim nicht mehr. Er suchte bei Freunden nach Ablenkung und verbrachte manchen Abend im Gasthaus. Das wurde gar bald zur Gewohnheit, was für Emilie ganz schrecklich war. Sie konnte mit diesem Mann nichts mehr anfangen. Sie schrieb an ihre Eltern nach Stuttgart. Es wurde beschlossen, dass der Bruder, mein Großvater (Karl Stoll), mit seinem Schwager sprechen sollte und dies geschah auch. Mein Großvater war rechtlich, gewissenhaft, streng gegen sich selbst, aber auch streng gegen andere. Er redete auf seinen Schwager ein und setzte ihm auseinander, wie schrecklich es sei, wenn er sich nun der Trunksucht ergebe. Er müsse sich beherrschen, sich aufraffen und ein neues Leben beginnen. Christian Ludwig sah das ganz und gar ein, dankte dem Schwager und sagte, er wolle alles ändern. Als er am anderen Morgen die Schleusen seiner Fabrik öffnete, suchte und fand den Tod in der Nagold - es war ganz entsetzlich, nicht nur für die junge Frau, auch für die Eltern, zu denen sie mit ihren beiden Töchterlein zurückgekehrt war. Ach schon allein das Gerede in der so genannten "guten Gesellschaft" sei unerträglich gewesen. Aber Christian Ludwig habe insofern für seine Familie gesorgt: Man konnte die Schönfärberei mit all den vielen Grundstücken recht bgut verkaufen, so dass Emilie zwar sparen musste, aber nie in Not geriet. Man fragt sich, warum man dies nicht schon vor vielen Jahren hätte tun können. Tante Emilie ist dann hochbetagt, nach vielen, trübseligen Jahren gestorben.